Wozu eigentlich noch schreiben? Ist das nicht sinnlos?

Ina Solowij
16. Juli 2022
Lesedauer
3 Minuten
"Warum sollte man heute eigentlich überhaupt noch schreiben? Zum einen geht die Welt sowieso vor die Hunde, egal wo man hinsieht, und zum anderen schreiben alle irgendwie und was soll da mein Senf noch ändern? Das interessiert doch niemanden."

So etwas in der Art hören wir ziemlich häufig im Lektorat und Coaching. Entmutigte Menschen, die eigentlich unbedingt schreiben und erzählen wollen, trauen sich nicht, weil Geschichten als ein nettes Extra gesehen werden, das man sich reinzieht, wenn man Langeweile hat. Ist das so?

Nein. Das ist großer Unsinn.

Sehr großer sogar.

Ich will das gern erklären, muss mich dem aber anders nähern:

Habt ihr euch schon mal gefragt, warum Erzählen, wenn es man es beherrscht, so gut funktioniert? Warum die Leute Figuren und Geschehnisse aus Geschichten so verdammt ernst nehmen, dass manche sich völlig unnötigerweise gegenseitig mehr oder weniger heftig angehen, wenn man unterschiedlicher Ansicht ist? Fans können mitunter in einen verbalen Kleinkrieg ziehen, wenn man etwas Falsches über Figur X oder Y sagt. Nur zur Erinnerung - und jetzt schmeißt bitte nichts nach mir - diese Figuren existieren nicht wirklich. Nichts davon ist real im Sinne davon, dass man es physisch anfassen könnte. Aber für die Menschen, die das mit Wonne konsumieren, ist es verdammt real. Und es kann schnell persönlich werden. 

Geschichten werden schnell persönlich.


Eine ziemlich gute 300-seitige Lüge des Menschen, der das Ganze ersonnen hat, bewegt die Leute so sehr, dass es persönlich werden kann. Teilweise verschwimmen die Grenzen zwischen Fiktion und Realität. Wer sich noch an Verena Koch aus GZSZ erinnert, den möchte ich daran erinnern, dass Leute sie bei einer Autogrammstunde am liebsten vor ein moralisches Gericht gezogen hätten. Und ich möchte gar nicht wissen, was der Schauspielerin der Figur von Dolores Umbridge alles passiert ist. Ob das immer gut ist, steht auf einem anderen Blatt, Fakt bleibt aber, dass es unweigerlich zu der Frage führt:

Warum ist das so? 

Warum sind Menschen durch Dinge so tief zu bewegen, die „nur erdacht sind“, dass sie sich damit identifizieren, Positionen einnehmen und in Flammen aufgehen können, wenn der falschen Figur etwas passiert oder nicht passiert?

Die Antwort darauf ist ziemlich komplex, aber ich versuche, es besser greifbar zu halten:

Ich lehne mich mal weit aus dem Fenster und behaupte, dass die größte Errungenschaft der Menschheit bei Weitem das Ausbilden und Weiterentwickeln von Sprache war und ist. Sie legte den Grundstein für alles Weitere. Und sobald die Sprache komplex genug war, begann der Mensch auch damit, sich gegenseitig Geschichten zu erzählen. Welche Kraft diese Fähigkeit hat, wird von den meisten Menschen unterschätzt und doch - leider auch nicht nur im Guten - häufig benutzt.

Menschen sind eng auf einem biochemischen, neuronalen Level mit Geschichten verbunden.

Wir können nicht anders als zuzuhören oder zuzusehen, wenn eine Geschichte gut erzählt wird. Es stillt unsere tiefsten Bedürfnisse nach Verbundenheit, Spiel und Lernen. 

Habt ihr schon mal Kinder beim Spielen beobachtet oder erinnert euch an eure eigenen Kindheitstage? Blitzschnell werden Regeln verhandelt und aufgestellt, und alle ziehen mit. Egal, ob es "Familie spielen“ oder „Wir retten das Piratenschiff“ ist, es ist immer wieder dasselbe Muster: Ein Problem wird entworfen, durchgearbeitet und gelöst. Nichts Anderes passiert in im Grunde in jeder einzelnen Geschichte, die du da draußen finden wirst. 

In. Jeder. Einzelnen.

Und das hat einen ganz bestimmten Grund:
Kinder proben im Spiel für den Ernstfall. Erwachsene Kinder proben für den Ernstfall, der längst eingetreten ist.

Ich klinge jetzt fataler als es meine Absicht ist, aber dieses Spiel ist genau das: Man probt für das Leben auf eine spielerische Art. Und Kinder tendieren dazu, auch richtig essentielle Themen einfließen zu lassen. Da geht es um Hunger, Tod, Verlust, Angriff durch einen Bösewicht oder andere, eher mittelschwerere Konflikte. Dieses „Proben für den Ernstfall“ ist naturgegeben und wir brauchen das als Menschen, um unsere Problemlösungskompetenzen zu entwickeln. 

Wenn wir älter werden, entwickeln sich die Geschichten zu komplexeren Gebilden und sie interessieren uns oberflächlich betrachtet aus vermeintlich anderen Gründen, aber das Prinzip bleibt das gleiche: Wir proben für den Ernstfall. Wir wissen mittlerweile alle, wie fies das Leben manchmal laufen kann. Wie hart es ist, plötzlich doch mit allem alleine klarkommen zu müssen. (Überhaupt, wer hat dieses Erwachsen-Sein erfunden? Braucht kein Mensch!) Und wenn uns dann jemand anderes in einer guten Geschichte erzählt, was es bedeutet Mensch zu sein und klarkommen zu müssen, ist das tröstlich, lehrreich und wir sehen uns in Teilen gespiegelt und mit anderen verbunden.

Dieser Erfüllung können wir einfach nicht widerstehen!


Menschen erzählen Menschen davon, was es bedeutet, Mensch zu sein und alleine klarkommen zu müssen. Im Grunde macht das jede Form von Kunst, aber die erzählende Kunst hat vielleicht den direkteren Zugang.

Das ist die wiederholte Generalprobe, während das Stück schon läuft. Manchmal sogar noch, wenn das Stück nur noch ein paar Minuten hat. 
Wir brauchen das, die meisten von uns können kaum genug davon bekommen, uns mit dem ganzen absurden Bums hier weniger alleine zu fühlen. Wir können kaum widerstehen, auf diese Art Verbindung zu dem zu finden, was in der Welt draußen und in unserer eigenen Welt stattfindet. Es bietet uns sowohl Futter für unsere uralten Instinkte als auch für den (hoffentlich) gereiften Intellekt, der auch komplexeres begreifen kann. Es gibt uns Möglichkeit für Empathie und Weiterentwicklung, aber auch, uns mit unseren liebsten Figuren größten Ängsten zu stellen.

Und dann halten gute Geschichten noch dieses magische Potenzial bereit, unsere Welt zu verändern, aber das ist ein Thema für einen anderen Tag.

Fakt ist aber, dass Menschen ihrer Natur nach einen nie endenden Durst nach Geschichten haben werden. Und daran ändert die Schieflage der Welt wenig - es kann sogar sein, dass wir sie umso dringender brauchen, je zerrissener einem alles da draußen vorkommt.

Lasst euch also nicht von den Unkenrufen aufhalten, heutzutage würde doch niemand mehr Geschichten lesen wollen.

Doch. Sie wollen. Und wie.

Also an die Tasten, an die Zeilen!

Herzlichst
Ina


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