Wir kennen sie alle, diese Momente, wo wir inmitten des Manuskripts stecken und nicht mehr weiterkommen. Wir wissen zwar nicht, wie wir dahin gekommen sind, fest steht aber: Es fühlt sich alles nicht mehr richtig an. Der Drive ist weg, die anfangs verheißungsvolle Vorwärtsbewegung hat eher etwas von einem sich leerenden Luftballon bekommen - und jetzt?
Wenn wir uns in diese missliche Lage hineinmanövriert haben, empfehle ich ein komplettes „Manuskript-Audit“ oder eine „Sichtung“. Sicher kennt ihr dieses Bild, dass man ohne Angst und Zweifel schreiben, aber ohne Gnade überarbeiten soll. Im besten Fall setzen wir also unseren Schreibfeder-Hut ab und unseren Überarbeitung-Hut auf. Jetzt betrachten wir das ganze Manuskript durch die Linse einer einzigen, wahrlich magischen Frage, nämlich:
Warum spielt das eine Rolle?
So simpel das klingen mag, aber es ist die beste Möglichkeit, um festzustellen, wo man ungünstig abgebogen ist. Dazu braucht man natürlich eine grobe Übersicht, was man wo geschrieben hat. Superdetailliert ist das gar nicht nötig, aber so, dass ihr alle Punkte überblicken könnt, an denen eine aktive Handlung geschieht, die Dinge verändern. Das kann auch die Entscheidung einer einzelnen Person sein.
An jedem dieser Punkte macht man Halt und fragt sich „Warum spielt das eine Rolle?“ Auch, wenn es total banal klingt, aber vertraut mir. Ihr müsst darauf antworten können, warum das für die Figuren eine Rolle spielt, was da eben geschehen ist oder entschieden wurde oder sich sonst anbahnt.
Warum?
Die Motivation der Figuren, etwas zu tun, ist der Motor, der uns durch jede Geschichte trägt. Man kann für „Motivation“ auch andere Wörter benutzen wie „Interesse“, „Ziel“, „Absicht“ oder „Grund“. Das alles lässt sich aber sehr elegant zusammenfassen zu „Warum spielt es eine Rolle?“ Warum ist es wichtig für die Geschichte und - genauer und auch wichtiger - warum ist es wichtig für die Figuren? Könnt ihr darauf klar antworten ohne nachzudenken und spürt vielleicht sogar noch das damit verbundene Gefühl der Figur in euch? Dann gibt es eine Antwort. Je mehr dieses Ziel mit einem anderen einer anderen Figur kollidiert, desto besser, denn dann habt ihr bereits einen Konflikt oder sogar ein Dilemma gestrickt!
Habt ihr die Antwort ohne Mühe sofort, kann es nicht an dieser Stelle an sich liegen. Also weiter zur nächsten. Liegt dieser Punkt erst hinter den beispielsweise nächsten dreißig Seiten, stimmt möglicherweise etwas nicht. Die Abstände sollten nicht zu groß sein. Im Idealfall birgt jede Szene, ja jede, eine klare Antwort auf die magische Frage „Warum ist das wichtig?“.
Fällt euch irgendwo auf, dass ihr „Mh, naja… es wäre schon sinnvoll…“ oder „Es passt hier eben perfekt hin“ oder „Das Gespräch hat so einen guten Vibe!“ sagt, dann solltet ihr hier genauer hinsehen.
Die Meisten hören das nicht gern
Manchmal hören Schreibende das nicht so gern, aber was keinen Zweck erfüllt, sollte keinen Platz in der Erzählung bekommen. Ein Zweck ist erfüllt, wenn dieser Abschnitt etwas bewegt innerhalb der Geschichte. Er bewegt nur etwas in der Geschichte, wenn das Geschehene oder potenziell zu Geschehene eine Rolle spielt. Und wann spielt es eine Rolle? Genau - wenn es für die Figuren eine Rolle spielt.
Da sind wir wieder bei den Motiven und der Motivation, die sich immer aus dem Spannungsverhältnis zwischen „Ich will etwas haben“ und „Ich kann es aber nicht (so einfach) erreichen“ ergibt. Wäre das nicht so, bräuchten wir keine Geschichte zu schreiben. Denn in einer Geschichte trifft, vereinfacht gesprochen, immer eine Sehnsucht oder Notwendigkeit auf ein Hindernis, es wird immer ein Problem in dieser Hinsicht festgestellt, versucht, diese Hürde hinter sich zu lassen und das Problem zu lösen. Diese Reise auf dem Problemlösungspfad genießt das Publikum. Liefe immer alles glatt, würde es niemand lesen.
Gold: Figurenmotivation und die Haltung des Publikum decken sich!
Je mehr sich die Antwort auf „Warum spielt das eine Rolle?“ vonseiten der Figur mit unserer persönlichen Antwort auf diese Frage in der Situation deckt, umso besser! Dann haben wir hochgradig investiertes Publikum, das unbedingt wissen will, wie es ausgeht, weil es eine ähnliche Rolle spielt wie für die Figur. Hier liegt das Gold!
Angenommen, ich habe selbst Mobbing oder Behandlungen ähnlicher Art erlebt und es verfolgt mich bis heute, sodass ich starke Gefühle wie „Wut“, „Scham“ oder meinetwegen auch „Mordlust“ verspüre, dann will ich als Teil des Publikums unbedingt wissen, was die Hauptfigur, die plötzlich zu Superkräften gelangt ist, in einer moralischen ambivalenten Situation mit den ehemaligen Mobbern tun wird, die mittlerweile erwachsen und in einem konkreten Moment von ihr abhängig sind. Sagen wir zusätzlich, die Rachelust der Hauptfigur würde die kleinen, verängstigen Kinder unserer auserwählten Person nachhaltig physisch oder emotional verletzen. Wir verstehen beim Lesen, dass es vielleicht besser nicht so geschehen sollte, aber wir verstehen trotzdem, warum es für die Hauptfigur eine Rolle spielt. Sie wird von ihren verständlicherweise starken Gefühlen überrannt, will aber auch nicht einem Kind ein Elternteil nehmen und/oder es psychisch nachhaltig schädigen, denn wie sich das anfühlt, weiß die Hauptfigur. Was also tun? Das Publikum will es umso mehr wissen, wenn es diese Erfahrungen teilt.
Nun hat natürlich nicht jeder Mensch die gleichen Erfahrungen, aber es gibt universelle Dinge, die in verschiedensten Schattierungen sehr viele Menschen verstehen. Aber auch unabhängig davon, ob sich das immer ideal mit den Bedürfnissen und Erfahrungen unseres Publikums deckt, ist es wichtig, dass es für unsere Figuren eine Rolle spielt.
Und zwar für alle in die jeweilige Richtung, die hier relevant ist.
Dass Sam andere Prioritäten und Haltungen hatte als, sagen wir, Gandalf, ist vollkommen klar. Dass Präsident Snow aus Die Tribute von Panem eine ganz andere Agenda hatte als Katniss, leuchtet auch ein. Für jede Figur aber spielt etwas eine Rolle. Und antagonistische Figuren sind auch nur die Hauptfiguren in ihrer eigenen Geschichte. Dieselbe Sache sieht aus ihrer Perspektive ganz anders aus. In den Augen der „Bösen Königin“ ist Schneewittchen eine alte Vampirprinzessin, vor der man das Königreich beschützen muss, aber ich schweife ab.
Und zwar für alle in die jeweilige Richtung, die hier relevant ist.
Dass Sam andere Prioritäten und Haltungen hatte als, sagen wir, Gandalf, ist vollkommen klar. Dass Präsident Snow aus Die Tribute von Panem eine ganz andere Agenda hatte als Katniss, leuchtet auch ein. Für jede Figur aber spielt etwas eine Rolle. Und antagonistische Figuren sind auch nur die Hauptfiguren in ihrer eigenen Geschichte. Dieselbe Sache sieht aus ihrer Perspektive ganz anders aus. In den Augen der „Bösen Königin“ ist Schneewittchen eine alte Vampirprinzessin, vor der man das Königreich beschützen muss, aber ich schweife ab.
Ein toter Arm im Manuskript
Solange die Frage an jedem „Triggerpunkt“ der Geschichte beantwortet werden kann, ist erstmal alles gut. (Wir sind wieder bei der magischen Frage - oder seid ihr noch bei der Vampirprinzessin? ;) ) Alles, was diesen Test nicht besteht, muss in der Hinsicht untersucht werden, dass ihr fragt: „Wie könnte es denn eine Rolle spielen? Was müsste sich ändern?“ Findet ihr darauf überhaupt keine Antwort, dann stehen die Chancen recht gut, dass ihr gerade auf einen „toten“ Arm eures Manuskripts gestoßen seid, der zu viel ist und schlicht Platz und Ressourcen blockiert und euch die Sicht auf die Lösung versperrt. Markiert das mindestens oder nehmt die ganze Figur raus. Oder verändert sie so, dass es eine Rolle spielt.
Ihr werdet euch wundern, wie das Knoten lösen kann. Wortwörtlich muss alles, was ihr im Manuskript habt, für die Figuren eine Rolle spielen. „Aber meine Beschreibungen!“, „Und die Kulisse? Und der Weltenbau!“ sagt ihr jetzt? Macht euch für den Moment darüber nicht so viele Gedanken, das ist ein Thema für einen anderen Tag.
Euer Manuskript ist prinzipiell gesund, wenn jeder Triggerpunkt (a.k.a. es wird auf ein Geschehen reagiert, eine Entscheidung aufgrund einer Motivation wird getroffen) Antworten auf diese eine Frage hat. Fehlen die oder sind nur so halbgar, stimmt etwas nicht.
Solltet ihr zu viele Antworten (und damit auch zu viele gestellte Fragen) haben, kann das euer Publikum auch überfordern. Jemand aus dem Lektorat kann auch in so einem Fall sagen, wo das Problem liegt. Manchmal muss man die Geschichte nur ausdünnen und begradigen. Ihr könnt aber auch jemanden mit Schreiberfahrung fragen, wo vermeintlich das Problem liegen könnte, wenn ihr euch wohl damit fühlt, euren Entwurf in andere Hände zu geben. Aber die eine magische Frage „Warum spielt das eine Rolle?“ ist ein wahres Zaubermittel, um eurem Manuskript die Schwachstellen, die euch das Leben schwer machen, zu entlocken.
Also an die Tasten, an die Zeilen!
Herzlichst