Ich schreibe einen Roman! Wo fange ich da jetzt an?

Ina Solowij
02. Juli 2022
Lesedauer
5 Minuten
Eine der häufigsten Fragen, die ich bekomme, ist: 
„Wie und wo zum Geier fang ich denn jetzt an, wenn ich eine Geschichte schreiben will?“
Egal, was ihr genau schreibt, Kurzgeschichte, Roman, Serie - irgendwann muss man mal losgehen. Aber wohin den ersten Schritt setzen?

Es ist erstaunlich, womit sich die Menschen bei dieser Unternehmung quälen. Bei den meisten endet es damit, dass sie grübeln und es letztlich nichts oder nur sehr wenig aufs Papier schafft. Man findet das irgendwie unspannend oder schlichtweg blöd und es landet im Papierkorb. „Das wird doch nie was.“
Ich will einmal an einem Beispiel demonstrieren, wie man es idealerweise so angeht, dass man nicht nach hundert Seiten steckenbleibt.

Da Schreiben ein sehr individueller Prozess ist, kann er für jeden Menschen auf optimale Weise ganz unterschiedlich verlaufen. Es kann auch von Projekt zu Projekt variieren. Das ist allerdings ein Thema für einen anderen Tag. Am vielversprechendsten ist aber, wenn ihr entweder mit einer Figur oder einem Dilemma (idealerweise mit beidem) anfangt. In den besten Geschichten stehen die Figuren und ein wirklich intensives oder interessantes Dilemma im Mittelpunkt.

Die magische Mischung ist, wenn beides - Figuren und Dilemma - miteinander verbunden oder verwoben sind.

Zwar gibt es auch Geschichten, in denen einfach nur sehr viel und sehr schnell passiert und es auch irgendwie clever erzählt ist, aber diese Sorte an Geschichten berührt uns meist nicht so sehr oder wir vergessen sie schnell wieder. „Popcornliteratur“ ist nichts Schlechtes an sich, hält aber nur für den Moment.
Schillernde Figuren mit einer nachvollziehbaren Agenda, dem Gefühl, dass sie echte, unvollkommene Menschen sind, die wir anfeuern können, und einem Dilemma, von dem wir kaum wegschauen können, wird uns um ein Vielfaches mehr beeindrucken und uns im Gedächtnis bleiben. Und als Schriftstellende wollen wir das unbedingt bei unserem Publikum erreichen. Unser Roman soll am besten noch lange nachklingen, wenn die letzte Seite beendet wird.

Ereignisgetrieben oder figurgetrieben?

Geschichten, die sich mehr aus den Ereignissen speisen (Präsident wird entführt, Schatz muss gefunden werden, Bombe muss entschärft werden etc.), bezeichnet man als plot-driven oder ereignisgetrieben. Das kann unterhaltsam sein, aber läuft Gefahr, eher flach zu bleiben oder - wie gesagt - schnell in Vergessenheit zu geraten. Dem gegenüber steht eine character-driven oder figurgetriebene Erzählweise. Hier sind die Motivation, die Fehler, Charakterzüge und Stärken der Figuren der treibende Faktor für die Entwicklungen der Geschichte.

An der Stelle möchte ich einmal ein grob skizziertes Beispiel heranziehen, das ich mir ausgedacht habe:

Dilara arbeitet als Erzieherin und liebt ihre Arbeit. Sie glaubt aus tiefstem Herzen, dass Kindern Rückhalt zu geben, aus ihnen bessere Menschen macht. Und bessere Menschen verändern die Welt, auch wenn die Leute Dilara dafür belächeln. Sie wünscht sich, sie hätte genau diesen Rückhalt durch ihre eigenen Eltern gehabt. Sie würde die Bedürfnisse eines Kindes immer über das von Erwachsenen stellen.
Eines Tages kommt Leo neu in die Gruppe und das Kind ist von der ersten Sekunde an anders als alle anderen. Irgendetwas stimmt nicht. Dilara erzählt der Gruppenleitung von ihrem Eindruck und die glaubt ihr nicht, obwohl der Zustand von Tag zu Tag schlimmer wird. Anfangs lässt sie sich noch wegschicken, aber als sie mitbekommt, dass die Gruppenleitung sie aus persönlichen Vorbehalten ihr gegenüber ignoriert anstatt sich um Leo zu sorgen, fährt sie aus der Haut und konfrontiert die Gruppenleitung so effektvoll, dass die Kita-Leitung sie dafür zum Gespräch bittet, während die Gruppenleitung schmunzelnd daneben sitzt. 

Ich weiß, ihr wollt dringend wissen, was mit dem Kind ist, und die Gruppenleitung könnt ihr jetzt schon nicht leiden. Aber bisher haben wir uns nur Dilara angesehen - was sie bewegt und wodurch die Ereignisse in Gang gesetzt werden. Jetzt brauchen wir noch ein Dilemma.

Figuren und Dilemma miteinander verweben

Eine gute Figur und ein echtes, nachvollziehbares Dilemma sind ein starker Motor für eine guten Roman und er wird auf natürliche Weise viele Arbeitsschritte im späteren Verlauf erleichtern. Wie ein Puzzle, in dem plötzlich alle gelegten Teile sich wie magisch einfügen, passen alle neuen Ideen dann leichter zueinander und man kommt in einen Schreibflow.

Daher konzentriert euch zuerst auf ein echtes Dilemma und eine Figur, die genau im Zentrum steht. Das muss natürlich nicht Dilara sein und wir müssen uns auch nicht in einem Kindergarten befinden. Diese Figur hat jedoch durch die Art, wie sie denkt und lebt, welche Erfahrungen sie gemacht hat, ein ganz persönliches Interesse an dem Ausgang des Dilemmas. Ich nutze das Wort Dilemma anstelle von Konflikt bewusst, weil es eine Steigerung von „Konflikt“ ist und besser unterstreicht, dass es häufig nicht reicht, wenn sich zwei um eine Sache streiten oder unterschiedlicher Ansicht sind. Oder etwas anderes aufkommt, dass man landläufig auch als „Konflikt“ bezeichnen würde.
Trotzdem braucht eure Erzählung natürlich mindestens einen Konflikt. Ihr könnt die tollsten Charaktere haben, aber ohne Konflikt oder Dilemma wird sich absolut nichts bewegen. Umgekehrt ist ein faszinierendes Dilemma ohne gute Figur etwas enttäuschend, denn wir wollen auf angenehme oder stimulierende Weise durch das Dilemma mit jemanden navigieren, den wir mögen oder mindestens interessant finden.

In unserem Beispiel mit Dilara sollten wir sie also verstehen können. Was sie beschäftigt, sind Dinge, die uns auf menschliche Art bekannt sind. Wir fühlen meist etwas, wenn jemand von den Ereignissen erzählt, die traumatisch gewesen sind. Wir kennen Ereignisse, die bei uns etwas ähnliches ausgelöst haben.
Wir sollten Dilara mögen und es sollte uns beschäftigen, ob sie es schafft, das Kind zu beschützen oder nicht. Und was das für Konsequenzen für sie hat.

Noch weiter in die Figur eintauchen und ihre Geschichte zum Antrieb machen

Das Dilemma wird umso schlimmer, je mehr wir die Figur ausarbeiten.
Sagen wir, sie kommt aus einem Haushalt mit psychischer Gewalt und Vernachlässigung. Sie hat sich zwar früh daraus befreien können, sieht aber die Anzeichen für toxische Familienbeziehungen in dieser Hinsicht schneller als der Rest Ihres älteren Kollegiums. Sie weiß genau, was mit Leo passiert, wenn sonst niemand hinsieht, aber keiner hört ihr zu, da sie gerade eben noch Auszubildende war. Auch das Jugendamt spielt ihre Bedenken herunter.
Sagen wir zusätzlich, dass es wenig gibt, das sie sich so sehr wünscht, wie eigene Kinder. Laut mehrfacher Diagnosen weiß sie aber, dass sie keine Kinder bekommen kann. Leo spürt, dass bei Dilara zu sein Sicherheit bedeutet und weicht ihr nicht mehr von der Seite.

Wisst ihr was, just for fun könnten wir noch einen männlichen Azubi mit in den Mix werfen, der noch nicht so müde von der Arbeitsbelastung ist. Auch ohne Pandemie ist das nämlich jede Wette nicht unbedingt der einfachste Job der Welt. Vielleicht haben die beiden Erwachsenen eine Verbindung zueinander (die muss gar nicht romantischer Natur sein) und entschließen sich, zusammen zu türmen. Zuerst nur eine Nacht, weil Leo niemand abholen kommt, und er ja irgendwo schlafen muss. Dann mehrere Tage. Kindesentführung ist eigentlich kein Kavaliersdelikt, das könnte schwierig werden.

Dilemma kann von Genre zu Genre ganz unterschiedlich aussehen

Und weil ein kleiner Exkurs hinüber in ein anderes Genre das Ganze noch einmal dreht, könnten wir auch sagen, dass Dilara magische Fähigkeiten bei Leo entdeckt, die ihn ziemlich sicher in die Hände von nicht-wohlmeinenden Leuten in der Medizin befördern würde, sollte das bekannt werden. Um ihn aus der psychisch belastenden Situation zu befreien, müsste man aber seine Fähigkeiten offenbaren.
Was also tun? Da haben wir ein ausgewachsenes Dilemma oder zwei, und die Beteiligten haben alle ein extremes Interesse daran.

Ich denke, ihr versteht das Prinzip.

Eine glaubhafte Figur, die uns menschlich vorkommt oder mit der wir teilweise Erfahrungen teilen, und ein echtes Dilemma sind für die meisten Fälle der beste Absprungpunkt. Idealerweise habt ihr beides, das optimal ineinandergreift - dann trägt euch das weite Strecken durch die Geschichte und der Treibstoff geht euch nicht so schnell aus.

Groß wird das Ding von ganz allein. Fangt klein an und schaut nach einer Verbindung zwischen einer faszinierenden Figur und einem echten Dilemma.

Bis dahin - an die Tasten und in die Zeilen!

Herzlichst
Ina